50 Jahre Geschichte der Naturwissenschaften und Technik in Stuttgart

50 Jahre Geschichte der Naturwissenschaften und Technik in Stuttgart

Organisatoren
Abteilung für Geschichte der Naturwissenschaften und Technik, Historisches Institut, Universität Stuttgart
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.03.2018 - 02.03.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Marius Penz / Tobias Stohrer / Thomas Walz, Universität Stuttgart

Anlässlich seines 50-jährigen Bestehens veranstaltete der Stuttgarter Lehrstuhl für Geschichte der Naturwissenschaften und Technik (GNT) am 1. und 2. März 2018 ein Fest-Symposium. Im Rahmen eines Projektseminars mit studentischer Mithilfe vorbereitet, fanden die Feierlichkeiten in einem atmosphärisch geschmückten Hörsaal statt. Vor und zwischen den Vorträgen konnten dekorativ in Vitrinen präsentierte historische Artefakte des Instituts betrachtet sowie auf Forschungsergebnissen des Lehrstuhls basierende Publikationen, darunter die frisch erschienene Jubiläums-Festschrift, begutachtet werden. Die 18 namhaften Vortragenden aus der Wissenschafts- und Technikgeschichte, die alle in Forschung und Lehre am Stuttgarter GNT-Lehrstuhl tätig waren oder sind, hatten über 100 Gäste angelockt, denen sie im bis zum Limit gefüllten Hörsaal nicht nur das große Spektrum heutiger Forschungen in der Wissenschafts- und Technikgeschichte präsentierten, sondern auch den historischen Kontext der Gründung, die eigene Tätigkeit sowie die Geschichte dieser beiden Fächer in der frühen Bundesrepublik reflektiert vermittelten.

Eröffnet wurde die Veranstaltung mit den Grußworten des ersten Lehrstuhlinhabers, ARMIN HERMANN (Stuttgart), wegen seiner gesundheitlichen Probleme gesprochen von seiner Frau Stefanie Varena-Hermann. Anschließend begrüßte der aktuelle Lehrstuhlinhaber KLAUS HENTSCHEL (Stuttgart) die Anwesenden herzlich und stellte die erste Rednerin vor: BEATE CERANSKI (Stuttgart) beleuchtete unter dem Titel „Der lange Marsch in die Institutionen“ detailliert und geistreich die Zusammenhänge, Entwicklungen und Akteure der Wissenschaftsgeschichte in den 1950er- und 1960er-Jahren der Bundesrepublik.

Anschließend erinnerte ANDREAS KLEINERT (Halle) in seinem lebhaften und ansprechenden Vortrag an den Wissenschaftshistoriker Heinz Balmer (1928–2016), dessen Charakter er als hervorragend, aufrichtig und empathisch und dessen Werke zum Erdmagnetismus sowie zu biographischen Themen er als elegante Meisterwerke der Wissenschaft und der deutschen Sprache beschrieb.

Ebenso interessant war GERHARD ZWECKBRONNERS (Ueberlingen / Mannheim) Vortrag „Wie ich zur Wissenschafts- und Technikgeschichte kam – Die Popularisierung des Fachs durch Armin Hermann“, in dem er geschickt einige Anekdoten mit der Darstellung seiner Studien und Tätigkeiten unter Armin Hermann in den 1970er-Jahren sowie der damaligen Popularisierung des Fachs verband. Letztere führte er vor allem auf die Präsenz der GNT im Schulfunk, die Verknüpfung von Technik und Kultur, den für eine Breitenwirkung nötigen, gepflegten Sprachstil am Institut sowie darauf zurück, dass u.a. Studierende der Elektrotechnik verpflichtet waren, wenigstens eine GNT-Vorlesung zu besuchen.

Dezidiert selbstbiographisch fiel der darauffolgende, abwechslungsreiche Vortrag von REINHARD NEUNHÖFFER (Stuttgart) aus, der den selbstredenden Titel „Vom Physiker bei Zeiss zum spätberufenen GNT-Historiker seit 1996 bis in die Gegenwart“ trug.

Im Gegensatz dazu erläuterte KARIN REICH (Berlin) in ihrem rein fachlichen Vortrag „Die Suche nach den Magnetpolen“ die Geschichte der Vermessung der Erdmagnetfelder, wobei ihr Fokus auf Carl Friedrich Gauß und dessen noch heute gültigen Berechnungen lag. Im Anschluss daran thematisierte HENRYK DITCHEN (Stuttgart) detailliert die Frühgeschichte der Stuttgarter Materialprüfungsanstalt von der Gewerbeschule zur Universität.

MICHAEL SCHAAF (Johannesburg) erläuterte plastisch den Hintergrund seines provokant formulierten Vortagstitels „Jugenderinnerungen alter Männer sind keine treue Geschichtsquelle – Zur Relevanz der Oral History in der Wissenschaftsgeschichte“, indem er auf die Definitionen, Grundlagen und Methoden von oral history und Interviews einging, wobei er betonte, dass trotz einiger Fallstricke und Besonderheiten der Wert dieser Quellengattungen darin begründet sei, dass durch Zeitzeugen (ihre) Geschichte erlebbar werde. Der Vortrag regte zu außergewöhnlich vielen Nachfragen und Diskussionen im Publikum an.

Außergewöhnlich war auch DIETRICH VON ENGELHARDTS (Lübeck/Karlsruhe) Vortrag, in dem er anschaulich, fesselnd, geistreich und humorvoll nicht nur Madame de Staëls in ihrem Werk „De l‘Allemagne“ zum Ausdruck kommendes Deutschlandbild sowie ihr Urteil über Naturwissenschaften und Medizin präsentierte, sondern auch, illustriert von vielen unterhaltsamen Zitaten, ihren Lebenslauf inklusive beispielsweise ihrer Begegnung mit Goethe sowie ihre Ansichten und Theorien, etwa zum Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften, Künsten und der „Bildung des Herzens“ eindrucksvoll aufzeigte.

Es folgte KAI TORSTEN KANZ (Lübeck), der nach einer ausführlichen selbstbiographischen Einleitung den Zusammenhang von Wissenschaft und Politik in Württemberg um 1800 anhand des Beispiels der Hohen Karlsschule verdeutlichte. Letztere stellte er detailliert und als Vorläufer der Universität Stuttgart vor, wobei er auf ihren Fächerkanon ebenso einging wie auf das beschäftigte Lehrpersonal, die Studierendenzahlen und berühmte Absolventen.

Im Anschluss daran thematisierte THOMAS SCHUETZ (Stuttgart) in seinem gleichnamigen Vortrag „Licht und Schatten in der Unternehmensgeschichte.“ Er präsentierte unternehmenshistorische Arbeiten im Spannungsfeld zwischen history marketing, das heißt dem Aufbau von Mythen, und akademischer Historiographie, die ebenjene Mythen dekonstruiere. Außerdem illustrierte er die Relevanz unternehmenshistorischer Arbeiten, indem er anhand des Beispiels von Cottas Flachsspinnereien Wissenschaft und Technik als Motor unternehmerischen Handelns darstellte.
Den Abschluss des ersten Tages bildete DIETER LANDENBERGERS (Wolfsburg) thematisch eng verwandter Vortrag mit dem Titel „Technikgeschichte und Unternehmenskommunikation: Vom klassischen Wirtschaftsarchivwesen zum digitalen Informationsmanagement“. Er thematisierte ebenfalls den Umgang mit Narrativen und Mythenbildungen, mit dem sich Unternehmensgeschichte im Spannungsfeld ihrer Aufgaben, dem Verwalten des Unternehmenserbes, der Traditionspflege, dem Aufbau von Erinnerungskultur und der historischen Transparenz auseinandersetzen müsse. Auch präsentierte er das Aufgabenspektrum des Wirtschaftsarchivwesens, indem er seine aktuellen Tätigkeitsbereiche bei Volkswagen vorstellte, wobei er das Thema „Digitalisierung“ als zentrale Herausforderung beschrieb und so zu einer lebhaften Diskussion anregte.

Den zweiten Tag eröffnete HANS-PETER MÜNZENMAYER (Esslingen), der über die Geschichte der württembergischen Brückenbauer referierte. Dabei kam er besonders auf die Bogenbrücken und ihre frühe Entwicklung zu sprechen. Während sein Fokus auf der Statik, dem Kühnheitsgrad und dem Erbauungskontext der Brücken lag, veranschaulichte er mit aktuellen Bildern und Erklärungen die hervorragende Bauweise und die immer noch gegebene Stabilität. Weiterhin stellte er in seinem gesamten Vortrag dar, wie Württemberg und seine Brückenbauer stets an der Spitze von Innovationsprozessen zu finden gewesen seien.

Anschließend sprach HELMUTH ALBRECHT (Freiberg) über seinen Lehrstuhl für Industriearchäologie. Er formulierte zunächst die Rolle und Aufgaben der Industriearchäologie, bevor er dies auf seinen Lehrstuhl projizierte und einige konkrete Projekte vorstellte. Weiterhin kam er auf die Verbindung der Industriearchäologie mit der Technik- und Wissenschaftsgeschichte zu sprechen sowie darauf, wie er im Rahmen eines Projekts am Lehrstuhl der Universität Stuttgart für das Thema begeistert worden sei und schließlich den Ruf nach Freiberg erhalten habe.

Danach referierte MORITZ EPPLE (Frankfurt am Main) zu Jean D‘Alembert und der Hydrodynamik. Anfangs erwähnte Epple, dass er den Impuls zu diesem Thema bereits in der Zeit in Stuttgart erhalten habe und legte dar, dass er über ein Forschungsprojekt zu einer Edition D‘Alemberts dieses Thema weiter verfolgt habe. Nach einer kurzen Biographie D‘Alemberts kam er auf die Genealogie, die Epistemologie sowie die Elemente der Hydrostatik und der Hydraulik zu sprechen, bevor er das Rätsel der Hydrodynamik thematisierte. Den Abschluss bildete ein Ausblick auf Anwendungen in der Praxis, beispielhaft in der Medizin und Meteorologie.

Im Anschluss sprach MARCUS POPPLOW (Karlsruhe) über Technikzukünfte und Impulse aus der Technikgeschichte. Dabei stellte er den neuen Lehrstuhl des KIT sowie Technikzukünfte als komplexes Spannungsfeld vor. Außerdem kam er darauf zu sprechen, wie die Science-Fiction-Literatur immer wieder konkrete Einflüsse und Ideen liefere, die zunächst als Utopie behandelt würden und später teilweise als reale Technik betrachtet werden könnten. Er sprach auch über die Verbindung zur Technikgeschichte und gestaltete sein Referat durch zahlreiche Beispiele äußerst lebendig.

Folgend berichtete CARSTEN REINHARDT (Bielefeld) über die Chemopolitik in modernen Industriegesellschaften. Er gab dabei einen Einblick in die Chemiegeschichte und die Geschichte sowie Bildung von Grenzwerten. Dabei betonte er die Wichtigkeit dieser Grenzwerte, kam aber auch auf Schwierigkeiten der Grenzwertbildung und -behandlung zu sprechen. An einem Beispiel führte er vor, wie es zur Grenzwertbildung kommt und welche Aspekte dabei berücksichtigt und integriert werden müssen.

Als vorletzter Referent thematisierte ANDREAS HAKA (Dresden / Stuttgart) die Materialgeschichte von Faserverbundwerkstoffen. Zunächst erläuterte er die werkstofftechnische Entwicklung und frühe Formen von Faserverbundwerkstoffen im 20. Jahrhundert, übertrug die Entwicklungen dann auf den Bereich der Luftfahrtforschung desselben Jahrhunderts und benannte die Zäsur 1945 sowie die werkstofftechnischen Trends in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zuletzt thematisierte er hybride Werkstoffe, die besonders in der Astronomie zur Verwendung kommen und kommen werden.

Den Abschluss des zweiten Tages bildete KLAUS HENTSCHEL (Stuttgart), der über die Gegenwart und Zukunft des GNT-Lehrstuhls in Stuttgart referierte und zahlreiche aktuelle Projekte der Abteilung präsentierte. So wurden die bisherigen Themen des Lehrstuhls reflektiert, aber auch die aktuellen sowie zukünftigen Projekte vorgestellt. Hentschel betonte die neuere Zusammenarbeit mit den Digital Humanities, das heißt die Öffnung des Faches, und sprach über Aspekte wie Objekt- und Materialgeschichte, wie auch über wissenschaftliche Datenbanken, die den Lehrstuhl aktuell beschäftigen.

Dieser Vortrag sowie die folgenden Schlussworte rundeten die Tagung gelungen ab, da so die vielseitigen Vorträge zur Frühgeschichte sowie zu den zumeist früheren Forschungsgebieten des Lehrstuhls um dessen Gegenwarts- und Zukunftsperspektiven ergänzt wurden.

Video- und Tonaufnahmen der obigen Vorträge werden voraussichtlich ab Mai 2018 auf der Homepage der GNT unter http://www.uni-stuttgart.de/hi/gnt/ kostenlos abrufbar sein.

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Peter Scholz (Stuttgart), Stefanie Varena-Hermann (Stuttgart) und Klaus Hentschel (Stuttgart)

Beate Ceranski (Stuttgart): Der lange Marsch in die Institutionen: Wissenschaftsgeschichte in den 1950er und 1960er Jahren

Andreas Kleinert (Halle): Erinnerungen an Heinz Balmer (1928-2016)

Gerhard Zweckbronner (Ueberlingen / Mannheim): Wie ich zur Wissenschafts- und Technikgeschichte kam – Die Popularisierung des Fachs durch Armin Hermann

Reinhard Neunhöffer (Stuttgart): Eine reflexive Selbstbiographie: Vom Physiker bei Zeiss zum spätberufenen GNT-Historiker seit 1996 bis in die Gegenwart

Karin Reich (Berlin): Die Suche nach den Magnetpolen

Henryk Ditchen (Stuttgart): Zur Frühgeschichte der Stuttgarter Materialprüfungsanstalt

Michael Schaaf (Johannesburg): „Jugenderinnerungen alter Männer sind keine treue Geschichtsquelle“ – Zur Relevanz der Oral History in der Wissenschaftsgeschichte

Dietrich von Engelhardt (Lübeck/Karlsruhe): Madame de Staëls Urteil über Naturwissenschaften und Medizin in „De l'Allemagne“

Kai Torsten Kanz (Lübeck): Das Ende der Hohen Karlsschule und die Situation der Naturwissenschaften in Württemberg um 1800

Thomas Schuetz (Stuttgart):Licht und Schatten in der Unternehmensgeschichte

Dieter Landenberger (Wolfsburg): Technikgeschichte und Unternehmenskommunikation: Vom klassischen Wirtschaftsarchivwesen zum digitalen Informationsmanagement

Hans-Peter Münzenmayer (Esslingen): Brückenbau – Ein Thema der Technikgeschichte und Denkmalpflege

Helmuth Albrecht (Freiberg in Sachsen): Von Stuttgart nach Freiberg – Von der Technikgeschichte zur Industriekultur: Industriearchäologie im Kontext von Wissenschafts- und Technikgeschichte

Moritz Epple (Frankfurt am Main): Zwischen Abstraktion und Nützlichkeit: Jean D’Alembert über die prekäre Epistemologie der Hydrodynamik

Marcus Popplow (Karlsruhe): Aus alt mach neu? Impulse aus der Technikgeschichte für die Reflexion von Technikzukünften

Carsten Reinhardt (Bielefeld): Grenzwerte: Chemopolitik in modernen Industriegesellschaften

Andreas Haka (Dresden/Stuttgart): Zur Materialgeschichte von Faserverbundwerkstoffen

Klaus Hentschel (Stuttgart): Gegenwart und Zukunft der GNT im Umfeld von Wissenskulturen, digital humanities und Objekt- sowie Materialgeschichte


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